1987. Bischkek. Draußen lockt der Mai: zwanzig Grad, strahlende Sonne, polyphones Vogelgezwitscher, der Duft von Maiglöckchen. Kurzum — ein perfekter Zeitpunkt sich zu verlieben oder zumindest Gedichte an eine nichtexistierende, imaginäre und hochersehnte Freundin zu komponieren, die Seele baumeln zu lassen und die schon zu dieser Zeit lauwarmen kirgisischen Nächte zu genießen und dann und wann mit Freunden ein gemütserfrischendes Bier am plätschernden Bach zu kippen. Das war, wonach ich mich eigentlich als neuzehnjähriger Student eines sowjetischen Musikcolleges sehnte. Stattdessen verbrachte ich immer mehr Zeit damit, das dunkelrote, nie endende Buch mit der Überschrift „Gesellschaftskunde“ auswendig zu lernen. Es ging um die Struktur der fortschrittlichen Gesellschaft, um die herrschende Arbeiterklasse, um die Bauern und die Zwischenschicht, i.e. die Inteligenzija, die Intellektuellen. Das Zeug schlug ich mir die Nächte hindurch in den Kopf. Die Abschlussprüfung stand an, die kompromisslose, strenge Dozentin ließ kein Wort mit sich reden, denn sie vertrat eisern die Meinung, jeder sowjetische Student, gleich welche Profession er anstrebte, hätte das Fach vorzüglich zu beherrschen, sonst, sonst … Tja … Was wäre eigentlich sonst passiert? Hätten die Amerikaner uns übertrumpft?

 

Stunde für Stunde erzog sie uns getreu den parteilichen Richtlinien zu besseren Menschen. Der Kreml hatte bereits seit zwei Jahren neue Töne aus seinem Munde verlauten lassen. Genosse Gorbatschow sprach eindringlich von Reformen, vom Kreuzzug gegen den Alkohol und die Bürokraten, die nämlich daran schuld wären, dass der längst fällige Kommunismus immer noch nicht den Weg zu uns ins Land gefunden hätte. Es galt, diese Übel auszurotten, ein für alle Mal. Dann wären wir nicht mehr weit davon entfernt. Die dickbebrillte, betagte Dozentin prophezeite uns allen Ernstes, dass wir zu der glücklichen Generation gehörten, die als erste in der Weltgeschichte die höchste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, das „Paradies“, erleben würden. Es war spannend, ihr zuzuhören, ohne Frage. Bei manch einem jungen Genossen funkelten die Augen, doch die meisten belächelten sie insgeheim. Natürlich wisse sie, gab sie eines Tages zu, dass der Westen technisch ein bisschen weiter entwickelt sei, weshalb man dort für derartige praktische Gegenstände, wie zum Beispiel ein Auto, nicht ein Leben lang sparen müsse. Dies sei jedoch reine Taktik der blutrünstigen Kapitalisten, denn indem sie nämlich der Arbeiterklasse so günstig ein Gefährt ermöglichten, profitierten sie davon vor allem selbst: Der arme Arbeiter würde so immerzu pünktlich zu seiner Ausbeutestelle erscheinen und der Kapitalist dank der Reduzierung von Verspätungen die Produktivität seines Betriebes erheblich steigern. Hm … War das nicht logisch?  Von überfüllten Straßen und Staus hatte sie wohl nie gehört. Wenn man diesen Gedanken konsequent weiter verfolgte, war die Tatsache, dass der westliche Arbeiter die Butter, die Wurst und das Benzin jederzeit im Laden bekam, ohne dafür zwei Stunden in der Schlange anstehen zu müssen, ebenfalls lediglich das Resultat des unehrlichen Taktieren des bösen Kapitalisten.

 

Immerhin hatte sie mir so viel Angst eingeflößt, dass ich lange abwog, ob ich direkt in den westlichen Teil Deutschlands oder zunächst, sozusagen auf Probe, in den östlichen abhauen sollte, um den Kulturschock nicht so hart erleben zu müssen. Ich war ja ein Kind des Sozialismus… Wie würde ich mich in der kapitalistischen Gesellschaft adaptieren bzw. integrieren? Das war eine schwierige Frage.

 

Das Schicksal entschied es für mich: Ausgerechnet am 3. Oktober 1990 landete mein Flugzeug in Frankfurt, und zwar glücklicherweise nicht an der Oder, sondern am Main. Die DDR war Geschichte, seit genau einem Tag, mit der UdSSR, dem vermeintlich mächtigsten Imperium aller Zeiten, ging es stracks Berg ab, ein Jahr später zerschellte es ebenfalls und fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und ein weiteres Jahr später erfuhr ich von einem alten Freund, dass die Gesellschaftskunde-Dozentin, die uns rigoros mit dem roten Buch gequält hatte, ebenfalls nicht mehr im fernen, sagenumwobenen Bischkek lebte. Sie gehörte nämlich zu denjenigen, die nach dem Zerfall des Imperiums zügig die Koffer gepackt hatten und Hals über Kopf in alle Welt flohen. Sie wählte Israel als ihre neue Heimat!

 

Ich konnte es mir nicht verkneifen, ausgiebig darüber zu lachen. Ich fragte mich vor allem: Hatte sie wohl ihre Bibliothek und das rote Gesellschaftskundebuch eingepackt? Nur so, für alle Fälle …

 

Natürlich hat mir mein Wissen über die „fortschriftlichen“ Gesellschaftsstrukturen des Kommunismus hier nichts genützt. Ich habe es auch nie erwartet. Einzig stelle ich nun paradoxerweise fest, dass das System, welches damals in dem größten Land der Erde vorherrschte — wohlgemerkt nicht im Einzelnen, sondern im Allgemeinen — wesentlich umweltfreundlicher war. Und zwar, indem es auf Grund seiner maroden Wirtschaft, den kapitalistischen Standards der Produktivitätsoptimierung und somit der Ressource-Ausbeutung Jahrzehnte hinterherhinkte. Vom Lebensstandard der Bevölkerung ganz zu schweigen.

Angesichts des drohenden Klimakollapses stelle ich mir nun immer aufs Neue dieselben Fragen: Welche Lebensart, welches System und welche Bücher können unsere Erde, unsere Zivilisation retten? Gibt es etwa die Goldene Mitte? Bin ich selbst bereit, meine Lebensansprüche auf das Nötigste zu reduzieren? Und schließlich: Hören wir irgendwann auf, einander und uns selbst zu belügen?

 

 

Artur Rosenstern

Umfang: ca. 5500 Zeichen